Interview mit Holger Glandorf - Was ist Trauer für Dich?

12.02.2023

Die digitale Trauerbegleitung „Schreiben als Brücke“ möchte Trauer und Trauerarbeit sichtbarer machen. Mit der SG Flensburg-Handewitt als Botschafter, möchten sie Jugendlichen und jungen Menschen aktiv Hilfe anbieten. So hat das Team der Onlinebegleitung im Interview mit SG Geschäftsführer Holger Glandorf mehr über seinen Verlust und seine Art der Trauer erfahren.

Lieber Holger, was ist Trauer für Dich?

Erstmal möchte ich Euch sagen, dass ich es super finde, was Ihr macht und wie ihr Euch einsetzt. Das Thema Trauer ist immer noch ein schweres Thema in unserer Gesellschaft. Trauer zu beschreiben ist nicht so einfach, jeder trauert unterschiedlich. Es gibt offensichtliche Trauer wie weinen, aber man kann auch tief in sich trauern. Ich selbst bin nach außen eher nicht so emotional, mache das in mir drin mit mir aus. Wichtig ist, dass jeder seinen Weg findet, damit umzugehen und das zu verarbeiten.

Trauer findet oft keinen Platz in unserer Gesellschaft. So wie Tag und Nacht zusammengehören, so gehören auch das Leben und der Tod zusammen. Jeder Mensch trauert anders. Da gibt es kein richtig oder falsch. Auch wenn manchmal außenstehende Menschen meinen, einem erklären zu müssen, wie man richtig trauert. Trauer ist erstmal ein ganz starkes Gefühl. Das kann einen überwältigen. Manche haben das Gefühl, das eigene Leben ist jetzt auch zu Ende. Gut ist, wenn man den Kanal zu seiner Umwelt offenlässt und sich Unterstützung sucht. Trauer ist nicht eines Morgens einfach weg. Es ist aber möglich, eine neue Verbindung zum Verstorbenen einzugehen.

Wie war das für Dich, als Dein Vater gestorben ist?

Mein Vater ist Sylvester 2007 gestorben. Da war ich 24 Jahre alt. Es war relativ plötzlich und erstmal schockierend für mich. Besonders schwierig war es für mich, zu sehen, wie meine Mutter leidet. Meine Frau war gerade schwanger mit unserem ersten Kind. Ich war mir der Verantwortung für meine neue, eigene Familie bewusst. Auch für meine Mutter habe ich mich in gewisser Weise verantwortlich gefühlt.

Manche Menschen sind erstmal in einem Überlebensmodus. Wie war das bei Dir?

Was mir geholfen hat, ich habe nach der Beerdigung das gemacht, was ich am Liebsten mochte, und Handball gespielt. Das war mein Hobby und Beruf. Ich gehe mit meiner Trauer offen um und bin mit mir im Reinen.

Kannst Du Dich noch an den Moment erinnern, als Du erfahren hast, dass Dein Vater gestorben ist? Wie war das für dich?

Es war Sylvester Morgen, ich war gerade auf dem Weg zum Einkaufen. Da bekam ich einen Anruf vom Handy meines Vaters. Meine Tante war dran und hat mir erzählt, dass mein Vater gestorben ist. Ich habe erstmal pragmatisch gedacht, bin umgedreht und wieder nach Hause zu meiner Frau gefahren. Wir haben alle Feiern für den Tag abgesagt und sind zu meinen Eltern gefahren. Meine Frau ist gefahren, ich mochte das nicht. Das Wichtigste war für mich, dass ich meine Mutter unterstütze, auch bei allem, was jetzt kommt, wie der Beerdigung. Es hat mir geholfen, einen Plan zu haben und mich daran entlang zu hangeln.

Das hört sich so an, als wäre der Überlebensmodus für dich hilfreich gewesen…

Ich sehe das pragmatisch. Ich habe innerlich getrauert und mit meiner Frau drüber gesprochen. Meine Mutter zu unterstützen, war mir wichtig.

Gab es einen Menschen, der Dich in den ersten Wochen nach Deinem Verlust unterstützt hat? Wer war das?

Meine Frau hat mich unterstützt. Man sagt ja, wenn ein Leben endet, beginnt ein neues. Da meine Frau schwanger war, habe ich die Verantwortung gespürt. Ich hätte gerne meinen Vater als Großvater an meiner Seite gehabt. Im Sport habe ich gelernt, mit Niederlagen umzugehen. Es kommen auch wieder bessere Zeiten. Der Fokus lag bei meiner Familie. Ich habe wieder an Turnieren teilgenommen, und das hat mir sehr geholfen, aus der unmittelbaren Trauer rauszukommen. Ich konnte das machen, was mir und meinem Vater Spaß gemacht hat.

Hast du weitere Unterstützung bekommen?

Ich habe Unterstützung erfahren. Das ist aber typenabhängig. Ich hatte nicht direkt das Bedürfnis, über meine Trauer zu reden. Ich glaube, dass vielen Menschen Hilfe guttut. Über die Trauer zu reden. Auch Menschen in meiner Umgebung. Deshalb finde ich Euer Angebot super.

Trauer kann immer wieder hochkommen. Immer dann, wenn man wichtige Stationen im Leben hat, wie Hochzeit, eigene Kinder, selbst Großvater werden. Dann denkt man wieder doll an den verstorbenen Menschen.

Das ist bei mir auch so. Ich erinnere mich positiv an meinen Vater. Bei tollen Ereignissen denke ich heute, es wäre super, wenn er jetzt dabei wäre. Ich kann den Verlust nicht ändern, es ist passiert. So mache ich das Beste daraus. Der Sport hilft mir. Da lernt man, wieder aufzustehen.

Welchen Ort verbindest Du mit Deiner Trauer? Ist es der Friedhof?

Ich kann da trauern, wo ich gerade bin. Wenn ich zur Ruhe komme, denke ich darüber nach. Der Erinnerungsort ist in mir drin. Es gibt ein Grab, aber es ist 450 km weg von hier. Wenn ich da bin, gehe ich auch mal auf den Friedhof. Meine Mutter ist regelmäßig da. Ich denke, es gibt für jeden Trauernden einen individuellen Weg. Da kann man auch mal was ausprobieren.

Inwiefern hast du aufgrund dieser Erfahrung Dinge geändert in Deinem Leben?

Ich habe seitdem mehr Verantwortung. Jemand ist weggefallen, den ich immer um Rat fragen konnte. Das fehlt mir. Ich habe immer von Freunden und Bekannten Rat und Unterstützung bekommen. Ich bin schlagartig älter geworden. Diese Reife ist für mich eine positive Auswirkung davon. Seitdem habe ich niemanden mehr aus meinem ganz nahen Umfeld verloren.

Manche Menschen finden einen neuen Platz für den Verstorbenen, zum Beispiel als inneren Ratgeber. Kannst du damit was anfangen?

Ich halte keine innere Zwiesprache mit meinem Vater. Aber ich denke oft, dass er jetzt stolz wäre auf meine Familie, meine Kinder und mich.

Wenn der Tod kommt, erschüttert er das Leben derer, die zurückbleiben. Gerade junge Leute verlieren dann das Vertrauen in das Leben an sich. Viele spüren eine große Angst, die bodenlos erscheint. Gefühle prasseln auf einen ein, es kann aber auch eine innere Leere da sein, so als wäre man innen drin ganz taub. Manche Familien und Freunde rücken ganz nah zusammen in der Trauer. Manche verdrängen die Trauer, und dann können sich Konflikte auftun. Die Rollen in der Familie werden durcheinandergewürfelt. Aggressionen kommen hoch, auch Schuldzuweisungen. Sätze wie „Hättest du das und das gemacht, wäre der Verstorbene noch am Leben“ treffen. Der Körper meldet sich. Einige bekommen körperliche Beschwerden. Das Umfeld reagiert auch mal mit Unverständnis auf junge Leute, die trauern. Da kommen dann Sprüche wie: „Also so schlecht scheint es Dir ja nicht zu gehen, Du gehst ja schon wieder feiern!“ Es können auch Probleme in der Schule, der Uni oder Berufsschule entstehen. Da weiter hinzugehen und erstmal zu funktionieren kann manchen Halt geben, aber andere spüren massiven Druck, den sie nur schwer aushalten können. Dann gibt es auch Momente, wo die Trauer einen kreativen Ausdruck findet. Mit Musik, was Geschriebenem, manche zeichnen und malen was, sprühen ein Graffiti oder so. Entwerfen ein Tattoo. Gehen in die Natur, auch mal auf den Friedhof. Unsere Trauer-Begleitungen berühren uns. Viele junge Leute haben nicht den Halt, den du im Sport hattest. Die fangen dann an zu schwimmen. Dann ist es gut, wenn sie uns alles sagen können.

Das ist total interessant zu hören. Ich bin auch gespannt, wie meine Kinder reagieren werden, wenn jemand aus unserem näheren Umfeld sterben sollte. Bis jetzt haben sie das Thema Tod nur am Rande mitbekommen. Das wird eine Aufgabe für mich sein, sie dann zu unterstützen. Das ist dann eine Doppelrolle. Ich bin dann selber in der Trauer, und helfe meiner Familie durch die Trauer. Den kreativen Weg als Ausdruck der Trauer finde ich gut, bei mir war es der Sport. Jeder muss einen Weg finden, die Gefühle auszudrücken. Da hilft dann ein Hinweis, zum Beispiel von eurer Seite, dass es Hilfsmöglichkeiten gibt und Leute, die einen unterstützen. Anregungen geben.

Wie hatte denn dein berufliches Umfeld reagiert?

Als mein Vater starb, war gerade Spielpause. Ich hatte in meinem damaligen Verein auch ein freundschaftliches Verhältnis zum Chef, da habe ich sofort Bescheid gesagt, dass mein Vater gestorben ist. Er war natürlich auch geschockt und hat mir jede Hilfe zugesagt. Das hat alles super geklappt. Auch Mitspieler waren für mich da, teilweise auch mit zur Beerdigung. Ein paar Tage später bin ich zur Nationalmannschaft gereist. Dort bekam ich viel Verständnis, so hatte der Bundestrainer mir freigestellt, ob ich spielen möchte oder nicht. Das war alles absolut fair. Jeder hätte verstanden, wenn ich an dem Turnier nicht teilgenommen hätte. Unser Tagesablauf war wie immer durchgeplant, das hat mir Halt gegeben, das Stringente. Unser Team war intakt. Für mich ist es so, dass ich denke, dass zu viel gezeigtes Mitleid schwierig geworden wäre. Ich wusste ganz sicher, dass ich jederzeit mit jemandem hätte sprechen können, und da Hilfe bekommen hätte. Das hat mir geholfen. Mir hat Ruhe geholfen.

Hättest Du die gleichen Erfahrungen gemacht, wenn Du nicht so ein berühmter Spieler gewesen wärst? Was glaubst Du?

Der Tod meines Vaters stand damals in der Zeitung. Es gab einen Nachruf, da mein Vater in der Stadt und in Handballkreisen schon bekannt war. In der Zeitung wurde auch erwähnt, dass ich zur Nationalmannschaft reisen werde zum Turnier. Es hat auch Interviews mit mir gegeben zu dem Thema. Unabhängig davon ob ich berühmt bin oder nicht, ohne den Sport hätte meine Trauerverarbeitung sicher einen anderen Weg genommen.

Cristiano Ronaldo hat im Alter von 20 Jahren seinen Vater verloren. In diesem Jahr ist dann auch sein Sohn gestorben. Da hatten wir das Gefühl, dass er es keinem rechtmachen konnte. Direkt wieder spielen oder nicht? Richtig trauern? Gab es bei dir auch Leute, die auf deinen Spieleinsatz mit Unverständnis reagiert haben?

Das gab es gar nicht. Social-Media war auch noch nicht so weit verbreitet wie heute. Ich war immer ganz offen. In den Interviews habe ich gesagt, dass mein Vater sich am meisten ärgern würde, wenn ich wegen ihm das Turnier verpasse. Der wäre stinksauer gewesen! Man kann es nie allen recht machen. Man ist als Spieler im Jahr gesehen fast mehr mit dem Team zusammen als mit der Familie. Da kann weiterspielen Halt geben.

 

Du hast direkt Interviews gegeben. Bist offen an das Thema rangegangen. Hast du damit Kritikern den Wind aus den Segeln genommen?

Definitiv, ich war da ganz offen und ehrlich. Ich war auch wegen meinem Vater direkt wieder beim Turnier. Darüber zu reden, auch in der Öffentlichkeit, hat mir geholfen.

Als Leistungssportler ist man sowohl mental als auch körperlich stark. Du hast im Laufe deiner Karriere erlebt, dass dein Körper dir Grenzen setzt, durch Verletzungen. Der Körper begrenzt uns, und die letzte Grenze ist der Tod. Kannst du das akzeptieren?

Ja, das kann ich. Die Verletzung kommt von außen, ist ein sportlicher Unfall. Damit musste ich umgehen. Es gibt aber auch die Verletzungen, die entstehen, wenn man fünfzehn Jahre lang einen Ball wirft, wie in der Schulter. Damit können einige Sportler umgehen, andere nicht. Ich konnte das ganz gut. Das Datum meines Abschieds auf dem Spielfeld stand schon ein Jahr im Voraus fest. Wegen Corona war es dann doch drei Monate früher. Das war nicht so super, hatte aber damals an meinem Entschluss nichts geändert. Gut finde ich, dass ich jetzt nochmal ein Abschiedsspiel bekommen habe. Jetzt kann ich wirklich einen Haken dran machen. Das war jetzt der perfekte Zeitpunkt.

Konntest du deinen Abschied selbst gestalten?

Bis auf Corona, ja. Da habe ich Glück gehabt. Ich weiß von anderen Profis, die haben Schwierigkeiten mit dem Abschied nehmen. Die haben dann doch nochmal gespielt, es gab keinen glatten Schnitt. Viele haben auch Zukunftsangst und fallen in ein Loch. Das war bei mir nicht so. Ich wurde direkt danach ein Teil der SG und bin jetzt Geschäftsführer. Mir war es immer wichtig, neben dem Handball ein zweites berufliches Standbein aufzubauen.

Gab es Momente, in denen Du Angst gefühlt hast? So wie: Was kommt jetzt?

Angst hatte ich bei meiner ersten schweren Verletzung, ein gebrochener Fuß. Operation, was kommt dann? Werde ich jemals wieder fit? Da haben mir Gespräche mit Ärzten geholfen und mit dem Team. Bei späteren Verletzungen hat mir diese Erfahrung geholfen, dass ich wieder zurückkommen kann. Vielleicht hilft mir auch die Erfahrung mit der Trauer um meinen Vater, um bei einem weiteren Todesfall damit umgehen zu können.

Leben heißt Veränderung. Deine Verletzungen haben heute noch Auswirkungen auf deinen Körper. Fällt dir die Akzeptanz leicht?

Ich kann akzeptieren, dass mein Körper sich verändert hat. Meine Profikarriere war eine superschöne Zeit, aber sie ist jetzt abgeschlossen. Ich nehme noch ein paar Wehwehchen mit. Ich habe viel in meine Profilaufbahn investiert, auch meinen Körper. Damit kann ich auf jeden Fall gut leben.

Was wünschst du dir für die Zukunft?

Erstmal wünsche ich mir, dass alle gesund bleiben. Und dass es jetzt mit Corona und dem Ukrainekrieg besser wird. Dass wir das Leid hinter uns lassen können, das würde allen helfen. Privat wünsche ich mir, dass ich weiterhin meine Familie begleiten darf. Da stehen Veränderungen an, die Kinder werden größer, es kommt die Pubertät. Das finde ich alles ganz spannend und ich wünsche mir, dass wir alle zusammen einen guten Weg finden.

Das Team der SG ist der Botschafter des ambulanten Kinder- und Jugendhospizdienstes. Was verbindest du damit?

Ich finde super gut, was ihr macht. Dahinter stehe ich. Junge Menschen, die Hilfe brauchen, können sich auf allen Kanälen bei euch melden. Wie es jeder am liebsten möchte. Ich freue mich, dass wir das unterstützen dürfen. Wir als Sportler sind in gewisser Weise auch Vorbild. Damit zeigen wir, dass wir nicht nur am Wochenende aus dem Schrank kommen und die Spiele machen, und das wars dann. Wir sind alle Menschen, und haben auch alle Erfahrungen mit Trauer und Tod. Das kann uns auch motivieren, uns Hilfe zu holen, wenn wir gesehen haben, wie offen ihr mit dem Thema umgeht. Deswegen finde ich unsere Rolle als Botschafter eine super Aktion, und wir unterstützen euch gerne.

Ihr habt schon einige Videos für unseren Instagram-Account schreiben.als.bruecke gedreht. Dort sind Spieler zu sehen, die offen über Trauer reden und ermutigen, sich Unterstützung zu suchen. Das kann den Zugang zu unseren Hilfsangeboten erleichtern.

In der Öffentlichkeit stehen wir meist als starke Menschen da, aber wir haben auch Themen zu verarbeiten. Wir haben eine weiche Seite und freuen uns, dass unsere Unterstützung den jungen Menschen hilft. Wir müssen als Gesellschaft dahin kommen, dass auch Leistungssportler Gefühle zeigen können. Da bin ich positiv.

Lieber Holger, wir wünschen dir, dass du weiterhin mit allen Deinen Sinnen voll im Leben bist. Dass du so offen bleibst, wie wir dich heute erleben durften. Und wir wünschen dir ganz viel Glück und Gesundheit für dich und deine Familie.